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Was ich noch zu sagen hätte - Das Hospizbuch
Was ich unbedingt noch sagen möchte - Das zweite Hospizbuch
Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Probelesen.
Alles Liebe, Martina & Tim
Was ich noch zu sagen hätte
Das Hospizbuch
Was ich unbedingt noch sagen möchte
Das zweite Hospizbuch
Prolog | Was ich noch zu sagen hätte
Die Tatsache, dass Sie diesen ersten Satz lesen, dass Sie überhaupt zu diesem Buch gegriffen haben, wohlwissend, dass es sich mit einem unangenehmen Thema beschäftigt, von dem auch Sie in vielfältiger Form betroffen sein werden, gibt mir den Mut, Ihnen gleich zu Beginn die vielleicht entscheidende Frage zu stellen:
WIE WOLLEN SIE STERBEN?
Falls Sie nun geneigt sind, ob dieser Ungeheuerlichkeit, das Buch direkt wieder zuklappen zu wollen, könnte ich das gut nachvollziehen. Sie ist unangenehm, diese Frage, und steht im krassen Gegensatz zu unserem gesellschaftlichen gelebten Bild, in dem es mehr und mehr um Lifestyle in allen Farben und Formen geht. Also bitte, zwingen Sie sich nicht, es ist in Ordnung, wenn es gerade nicht passt. Dankbar wäre ich Ihnen aber, wenn Sie dieses kleine Buch parat halten sowie ab und an mal öffnen, vielleicht öffnet es irgendwann ja Sie…
Da Sie nun auch diese Zeile lesen, möchte ich Ihnen ganz kurz davon erzählen, wie es zu diesem Buchprojekt gekommen ist und mit welchen Vorzeichen ich in die Begegnungen gegangen bin, von denen ich Ihnen später ausführlich berichten werde.
Der Tod begegnete mir erstmals bewusst, als vor vielen Jahren ein enger Freund von mir starb. Bis dahin hatte ich keinen einzigen Gedanken an das Sterben verschwendet, hielt uns für unverwundbar und dachte, wir würden gewinnen. Dann hörte sein Herz auf zu schlagen und meines fand einen versöhnlichen Gedanken, an dem es sich festhalten konnte:
Er ist nicht VON mir gegangen, er ist lediglich VOR mir gegangen.
Er sitzt jetzt irgendwo da oben, zusammen mit einem Haufen toller Leute; dem geht’s bestimmt gut da! Das half in dem Moment, auch wenn es natürlich nur die halbe Wahrheit darstellte. Die bitterere Hälfte ist: Weder das Leben, noch das Sterben sind plan- geschweige denn kontrollierbar; genau das macht uns Angst, genau dem stemmen wir uns auf mehr oder weniger obskure Weise entgegen, genau das ist es, was uns letztlich den Umgang mit dem Leben und dem Sterben so schwermacht. Doch ich ignorierte diese Hälfte einfach, so wie es alle anderen auch taten.
Beinahe zwanzig Jahre später, schrieb ich eine Kolumne über Menschen, die einem Beruf oder einer Berufung nachgingen, welche ich für gesellschaftlich unterschätzt hielt. In diesem Rahmen wollte ich eine ehrenamtliche Hospiz-Mitarbeiterin vorstellen und scheiterte krachend am Veto des Chefredakteurs. Bis dahin wurden alle Ideen genehmigt: Hebammen, Priester, Swingerclub-Besitzer, Tatortreiniger – nur eine Hospiz-Mitarbeiterin, das schien unmöglich. Ich blieb verwundert zurück, kam dennoch mit der Frau in Kontakt und stellte fest, dass diese Ablehnung keine Ausnahme war. Unsere Gesellschaft schiebt kaum ein Thema so konsequent zur Seite wie das Sterben.
Noch deutlicher wurde dies, als ich Kontakt zu den Menschen aufnahm, die vom Sterben leben, also wirtschaftlich profitieren. Friedhofsgärtnereien, Sargbauer, Bestatter – sie alle kannten die Problematik, sie alle befürworteten die Idee, das Sterben zu thematisieren und doch, zur Umsetzung beitragen und sich selbst dafür einsetzen, das wollten sie nicht. Obskurer Höhepunkt war letztlich die Nachricht eines Bestattungshauses (!):
»Vielen Dank für Ihre Bemühungen, wir haben uns jedoch gegen eine finanzielle Unterstützung Ihres Projekts entschieden, da wir in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mit dem Thema Sterben in Verbindung gebracht werden wollen.«
So fragwürdig diese Antwort scheint, sie ist nur Ausdruck des tiefsitzenden gesellschaftlichen Phänomens, im Zweifel der Verwundbarkeit lieber wegzuschauen und damit die erste und einzige Gesetzmäßigkeit des Lebens auf absurde Weise zu ignorieren: Es ist vergänglich.
Dem ganzen daraus entstehenden Dilemma wollte ich etwas entgegensetzen – das war mein persönliches Motiv zu diesem Buch. Ich wollte mich dieser Angst stellen und etwas über das Leben lernen, in dem ich mich mit dem Sterben im Allgemeinen und den Sterbenden im Speziellen beschäftige.
In dem festen Glauben, dass am Ende eines jeden Lebens eine Perspektive wartet, die den Blick auf das Wesentliche schärft und von der wir – die wir uns mitten im Leben wähnen – etwas lernen können, traf ich in den folgenden zwölf Monaten Menschen auf den letzten Metern ihres Lebens.
Ich wollte ihnen die Gelegenheit geben, loszuwerden, was sie noch zu sagen hätten, wenn sie jemand fragen würde. Ich wollte erfahren, was sie vom Leben gelernt haben, was sie prägte und was sie nun, am Ende angekommen, bewegt. Ohne etwas vorwegnehmen zu wollen, das war Vieles – Leichtes, Wildes und Fröhliches, aber auch Trauriges, Warnendes und Geraderückendes.
Aber lesen Sie selbst.
»Eine Grütz- und eine Semmelwurst, schöne Frau.«
Eine Begegnung mit Käthe, 82 Jahre alt
»Junger Mann, kommen Sie rein, ich erzähle Ihnen gern etwas von mir, schreiben Sie das in Ihr Buch, kann ruhig jeder wissen, wie das so ist, wenn man am Ende angekommen auf sein Leben zurückblickt.«
»Und, wie ist es?«
»Ach, alles halb so schlimm.«
Käthe sieht strahlend schön aus, auch ohne gerade Nase, straffe Arme und elegante Beine. Herzenswarm, fröhlich und weiß Gott, nicht auf den Mund gefallen. Und, sie hat es einigermaßen eilig.
»Fangen wir an?«
»Fangen wir an.«
»Ich erinnere mich an die Zeit, als die Bäume auch im Sommer keine Blätter hatten. Wir waren so hungrig, wir aßen beinahe alles. In dieser Zeit war das halbe Pfund Zucker, das meine Mutter von jemandem geschenkt bekam, das wir versteckten, von dem wir nur zweimal eine Prise probierten und uns den Rest immer für den Tag aufheben wollten, an dem der Vater aus dem Krieg heimkehrt, dieses halbe Pfund war uns sehr viel wert! Sie machen sich keine Vorstellung, wie meine gute Mutti mich ansah, als sie eines Tages entdeckte, dass ich beinahe alles heimlich aufgegessen hatte. Sie war sehr traurig, umarmte mich und fand dennoch Verständnis. Ich schäme mich bis heute dafür und denke bei jedem Löffel Zucker an sie und diesen Augenblick zurück.«
Käthe hat diese sanfte Melancholie in ihren Augen, in denen man nur erahnen kann, dass ihr Leben ein bewegtes war.
»Als der Krieg zu Ende und der Vater noch immer nicht heimgekehrt war, hingen am alten Konsum die Verlustlisten aus. Wie sture Böcke gingen meine Mutter und ich an ihnen vorbei – ohne sie eines Blickes zu würdigen. Es war Mai, dann Juni, Juli und irgendwann kam der Winter. Man sagte meiner Mutter, wir sollen akzeptieren, wie es ist, er wird nicht zurückkehren. Entweder ist er geflohen oder tot. So waren die Leute damals. Es war kein Platz für Gefühle. Meine Mutter war tüchtig und hatte Kraft, von daher war sie sehr begehrt bei den alleinstehenden Männern. Die Not war groß und es wäre ein Leichtes gewesen, sich irgendeinem anzuschließen, um vielleicht ein wenig besser über die Runden zu kommen. Aber das kam für sie nicht infrage. Sieben Jahre vergingen, die Hoffnung schwand. Bis an einem unschuldigen Samstagmorgen meine Mutter als Angestellte hinter der Fleischereitheke stand, jemanden erst eintreten und dann bestellen hörte:
»Eine Grütz- und eine Semmelwurst bitte, schöne Frau.«
Wie ein Blitz muss es sie durchfahren haben; es gab nur einen Mann weit und breit, der auf diese Art und in diesem charmanten Ton bestellte – meinen Vater.«
»Eine ziemlich beeindruckende Frau, Ihre Mutter.«
»Ja, das war sie. Und nur falls es Ihnen entgangen sein sollte – ich komme nach ihr.«
»Das merkt man«, wir teilten uns ihr charmantes Schmunzeln.
»Ich bin in einer Zeit erwachsen geworden, in der eine Frau wie meine Mutter die absolute Ausnahme war. Die allermeisten anderen Frauen waren gezwungen, sich unterzuordnen – sei es durch die Folgen der Kriege, die Gesellschaft, die Geschichte, die Kirche oder gar den eigenen Mann. Wenn ich heute so zurückblicke, dann bin ich sehr froh, dass meine gute Mutti mir beigebracht hat, wie wichtig eine gewisse Form der Unabhängigkeit ist. Keiner sagt, dass das leicht war oder heute wäre, aber es ist wichtig. Und ich hoffe, ich konnte diese Erkenntnis an meine Tochter weitergeben.«
Und dann erzählt mir diese Frau von ihrer ehemaligen Nachbarin, die 54 Jahre im ehelichen Schatten zu verwelken drohte, ehe ihr endlich die Befreiung gelang: »Sie wurde ihr ganzes Leben von ihrem depressiven Vater bevormundet und heiratete seine Wahl, weil sie selbst keine andere hatte; sie kannte es nicht anders. Immer wieder sagte ich ihr, sie solle gehen, sie müsse ihn verlassen. Erst auf dem Sterbebett gelang es ihr, erst dann sah sie so klar, dass sie ihm sagen konnte, was sie hätte dreißig, vierzig Jahre zuvor schon sagen sollen. Ist das nicht schlimm?«
Ich nicke zustimmend.
»Nein, nein, junger Mann, das allermeiste würden sich die mutigen Frauen von heute nicht mehr gefallen lassen, ein Glück. Und doch gibt es noch immer so viele da draußen, denen Courage und Möglichkeit fehlen, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen.«
»Ist es Ihnen gelungen, Ihr Leben so zu gestalten, wie Sie es sich gewünscht haben?«
»Sie stellen ja Fragen! Wahrscheinlich wäre es besser, ich würde eine Weile darüber nachdenken. Und mit einer Weile meine ich eine kleine Ewigkeit, so groß ist Ihre Frage, so vieles gäbe es dabei zu bedenken. Aber Sie wissen ja, wie es um die Zeit im Allgemeinen und meine im Speziellen bestellt ist. Von daher sage ich einfach Ja.«
»Ist es denn so einfach?«
»Ja, das ist es.«
Wir schweigen. Ich im fortgeschrittenen Stadium irritiert; sie sehr sanft und in einem Gedanken verloren.
Dann sagt sie: »Wissen Sie, vom Ende aus betrachtet, und deswegen sind Sie ja da, von diesem Ende aus, lässt sich wohl sagen, dass man all die Dinge, die man denkt und fühlt und tut – übrigens in dieser Reihenfolge – in zwei Kategorien ordnen kann: Liebe und Angst. Und wem es gelingt, sich immer öfter und immer wieder für die Liebe zu entscheiden, dem gelingt es wohl, sein Leben so zu gestalten, wie er es sich gewünscht, wie er oder sie es sich vorgestellt hat. Und unter dieser Prämisse würde ich bei aller Bescheidenheit sagen: Ja, ich habe irgendwann angefangen zu gestalten. Und dann ausreichend oft, so wie ich es wollte, um zufrieden zurück zu schauen.«
Prolog | Was ich unbedingt noch sagen möchte
Am Rande einer Veranstaltung, ungefähr ein Jahr nach der Veröffentlichung von Was ich noch zu sagen hätte, spricht mich eine ältere Dame ganz leise und vorsichtig von der Seite an:
»Entschuldigen Sie bitte, wäre es Ihnen vielleicht möglich auch mein Buch noch zu signieren?«
»Aber gern, haben Sie einen konkreten Wunsch?«
»Ja, schreiben Sie bitte: für Rosie und Walter.«
Sie holt ihr Exemplar aus der Tasche und gibt es mir. Noch bevor ich es richtig öffnen und die erste Seite aufschlagen kann, fällt ein altes Schwarz-Weiß-Foto aus dem Buch. Ich hebe es auf. Es zeigt ein junges Paar in den Bergen. Ich erkenne die Frau, die nun drei, vier Jahrzehnte später vor mir steht.
»Oh, das sind doch Sie, oder? Und ist das denn Ihr Walter?«, frage ich sie.
»Ja, ja, ganz richtig, das ist er. Wissen Sie, er wollte sein ganzes Leben lang einmal mit dem Glacier Express durch die Schweizer Alpen fahren. Das ist der langsamste Schnellzug der Welt! Es hat leider nicht mehr geklappt.«
»Oh, das tut mir sehr leid.«
»Ja, es tat mir sehr lange weh, dass ihm das nicht vergönnt war. So weh, dass sich die Jahre danach ganz taub anfühlten. Irgendwann brachte meine Tochter dann Ihr Buch mit. Das mag sich jetzt vielleicht verrückt anhören, aber als ich die Geschichte von Margarete las, die ihren Ferdinand verloren hatte, da fiel mir auf, die kluge Frau hat recht: ich bin ja noch hier, ich lebe ja noch. Also habe ich mir ein Ticket für den Glacier Express gekauft. Und glauben Sie es oder nicht, mein Walter war dabei! Ich habe mich ihm nah gefühlt, so nah, wie lange nicht.«
Eine ganze Weile waren es Geschichten wie diese, Geschichten von Angehörigen und Hinterbliebenen, die mir als Reaktion auf das erste Hospizbuch an vielen Orten begegneten. Menschen, die mir von ihrem Verlust erzählten, von Gefühlen, die sie lange Zeit ganz tief im Herzen verankert mit sich herumtrugen und denen sie nun, erinnert durch die Geschichten von Otto, Friederike, Günter, Heinz, Ben, Elisabeth, Georg, Charlotte, Ferdinand, Hannes, Greta und Käthe begegnen konnten.
Nach und nach veränderten sich jedoch die Absender. Immer öfter waren es nun Sterbende, die sich auf ganz unterschiedlichen Wegen bei mir meldeten, das Buch gelesen und auch etwas zu sagen hatten. Ich antwortete allen, die sich die Mühe machten und Kontakt suchten. Mit vielen dieser Menschen telefonierte ich, mit einigen verabredete ich mich. Diesen Treffen gingen, im Gegensatz zum ersten Hospizbuch, weder ein konkreter Projektrahmen, noch eine genaue Fragestellung voran – wie ich sterben möchte, hatte ich ja im ersten Teil bereits geklärt. Für mich waren es absichtslose Begegnungen aus aufrichtigem Interesse an mutigen Menschen.
Diesmal suchte nicht ich sie, diesmal fanden sie mich. Und immer öfter hatten die, die mich fanden, eine Botschaft im Gepäck, ein Anliegen. Einige versteckten es unterschwellig und zwischen den Zeilen, andere sprachen es ganz konkret und offen aus. Sie alle hatten etwas vom Leben gelernt.
Von einigen dieser vielfältigen, bewegenden und meinen Horizont immer weiter öffnenden Begegnungen aus den letzten Jahren, möchte ich Ihnen nun erzählen.
»Beinahe hätte es nicht geklappt mit uns.«
Eine Begegnung mit Manfred, 86 Jahre alt
»Ich hätte gerne früher gewusst, dass die Plätzchen meiner Frau nach ihren Händen schmecken «, sagt Manfred und hält seinen Schatz ganz bedacht in seinen von vielen Jahren harter Arbeit gezeichneten Händen. Es ist eine große, blaue Blechdose, die ziemlich ramponiert aussieht und sich daher nicht ganz leicht öffnen lässt.
»Sie werden das vielleicht nicht glauben«, er unterbricht seinen Satz kurz für ein herzhaftes Zwischenschmunzeln: »aber da drin riecht es nach meiner Frau!«
Dann versucht er die Schachtel zu öffnen. Es gelingt nicht gleich, seine Hände zittern, Griffkraft fehlt. Er wird nervös und verliert zügig die Geduld mit sich, schimpft leise vor sich hin, dann hat er die Büchse endlich offen. Erleichtert legt er den Deckel zur Seite, greift in den wilden Haufen aus Erinnerungen, schiebt ihn ganz leicht zur Seite und beugt sich dann in Richtung Tisch, um einen ganz tiefen Nasenzug zu nehmen. Anschließend setzt er sich auf, lehnt sich an und hält wohlig wirkend inne.
»Sie können auch, wenn Sie wollen und es Ihnen nicht zu verrückt ist.«
Ich will, ich will sogar ganz unbedingt und nicke folglich. Er schiebt mir die Dose über den Tisch und blinzelt mir erwartungsvoll zu. Dann rieche ich. Ehrlich gesagt rieche ich nichts Spezielles, es riecht nach alten Fotos und Blech. Am ehesten noch nach Küche. Ich möchte ihm aber nicht weh tun, nur um ehrlich zu sein. Ich möchte aber auch nicht schwindeln. Daher sage ich nichts und frage stattdessen, wie lange ihn diese Blechdose schon begleitet.
»Das kann ich Ihnen ganz genau sagen, seit Weihnachten 1986. Ein Mitbringsel der Westverwandtschaft, was haben wir uns gefreut über dieses herrliche Feingebäck.«
Dann unterbricht er seinen Satz erneut für ein Zwischenschmunzeln, ich bemerke, dass seine langen, wilden Augenbrauen tanzen, wenn sein Mund ein stilles Lachen formt:
»Nur geschmeckt haben sie nicht.«
Weggeschmissen hätten sie natürlich nichts, aber froh waren sie doch, als es geschafft war und die Blechbüchse endlich zur neuen Heimat der Kekse seiner
Frau werden durfte.
»Was haben wir jetzt?«, fragt er.
»2023«, sage ich.
»Dann sind das wohl siebenunddreißig Jahre, nicht wahr? Kann das wirklich sein? Meine Gerda wüsste das ganz bestimmt.«
»Und Sie können sie darin riechen?«
»Ja, ja. Das kann ich. Wie gesagt, früher konnte ich sie auch noch schmecken, aber das wusste ich da noch nicht. Diese Büchse, meine Schatzbüchse, leerte sich ja nie.« Er lacht.
»Ganz gleich, wie viele Kekse ich aß, wie durch Zauberhand füllte sie sich wieder, ohne dass ich etwas bemerkte. Den Boden, sehen Sie, dieses leicht goldene Muster auf dem Boden der Büchse?«
»Die Prägung? Ja, ich sehe sie.«
»Die habe ich erst entdeckt, da war meine Frau schon verstorben. Irgendwann gingen mir die Kekse aus, da bemerkte ich es – sie schmeckten nach ihr. Es ist schade, dass ich das nicht eher wusste. Da hätte sie sich wahnsinnig drüber
gefreut.«
»Wollen wir sie vielleicht lieber wieder schließen, damit der Geruch nicht verfliegt?«
»Das ist interessant, dass Sie das sagen. Ich fürchtete mich anfänglich sehr, dass das passieren könnte. Dann, das ist mir jetzt ein bisschen, nun ja, unangenehm, das zu sagen...«, beinahe wie ein kleiner Bengel, der etwas ausgefressen hatte, schaut Manfred auf seine auf dem Tisch liegenden
Hände und dreht Däumchen: »Sie waren doch sicher auch schon einmal traurig, Sie kennen das doch bestimmt, dass man dann manchmal so komische Sachen macht, wenn es dicke kommt, oder?«
Ich bestätige mit einem Kopfnicken, um kein Wort sagen und ihn nicht unterbrechen zu müssen.
»Na jedenfalls schlief ich ein und die Büchse war noch offen. Am nächsten Morgen lag sie noch immer offen neben mir auf der Bettseite meiner Frau und ich dachte schon, das wäre es gewesen, verschloss sie wieder, stellte sie zurück an Ort und Stelle und ärgerte mich zwei Tage über mich, wie konnte einer ganz allein so dumm sein. Aber siehe da, ein wunderbarer Irrtum!«
»Sie riecht doch noch nach ihr?!«
»Ja, jedenfalls für mich. Vielleicht hat auch dieser alte Schädel es einfach gespeichert und ruft es ab, wenn sich die Büchse öffnet.«
»Wie schön, dass Sie diese Schatzkiste haben.«
»Sie ist immer bei mir. Ich nehme sie mit zur Dialyse, wenn die Kinder mich holen, auch wenn ich auf dem Balkon sitze. Sowie Gerda immer bei mir war, so sind nun auch die Erinnerung an sie immer bei mir.«
»Sie sind eine sehr treue Seele.«
»Nun«, wieder schmunzelt er, es wirkt ein bisschen wie ein einzelner Schluckauf, nur gibt es kein Geräusch, sondern ein einzelnes stilles Lächeln: »wir haben ja das ganze Leben miteinander verbracht. Von klein auf.«
»Sie kennen sich schon seit Kindertagen?«
»Jawohl!«
»Toll!«
»Vor dreiundachtzig Jahren, ich war drei und sie noch null, sah ich sie zum ersten Mal. Meine Mutter erzählte mir das später, erst nach der Hochzeit, glaube ich. Meine Gerda war das Kind unserer Nachbarn. In dem Sommer, in dem sie geboren wurde, machte man sich bekannt. Die Höfe waren groß und ab vom Schuss, Besuch gab es nur zu seltenen Gelegenheiten. Aber mit den Nachbarn saß man ab und an hinten auf den Wiesen mit einer Decke. Meine Mutter erzählte mir, wie fasziniert ich kleiner Steppke von dem Baby war. Andere Kinder gab es ja nicht.«
»Heißt das, Ihre Gerda war überhaupt das erste Mädchen, das Sie je gesehen haben?«
»Ja, ja! Das erste Mädchen meines Lebens wurde später meine Frau.«
»Wie wundervoll!«, ich habe Gänsehaut bis in die Kniekehlen; Manfred strahlt stolz über seine beiden großen Ohren.
»Dabei hätte es ja beinahe nicht geklappt mit uns«, fügt er lachend hinzu: »Als Kinder waren wir einander enge Gefährten, andere Kinder gab es ja in unserem Umfeld nicht und selbst in den Kriegsjahren war es auch schwierig mit der
Schule, oft hatten wir nur uns. Ihr Vater, ein eigentümlicher alter Preuße, kam als Verwundeter zurück, er hatte immer etwas Besseres als mich für seine Tochter im Sinn. Als es so langsam losging mit dem Erwachsenwerden, fand er schon seine Mittel und Wege, um seine Tochter von mir fernzuhalten.«
Manfred wühlte parallel schon eine ganze Zeit in dem Bündel Erinnerungen, die mit einem alten Zopfgummi zusammengehalten werden.
»Das ist sie«, sagt er und reicht mir ein Bild.
Es zeigt eine junge Frau mit langen braunen Haaren und einem gepunkteten Sommerkleid. Sie lächelt auf einem Fahrrad sitzend.
»Es war mein großes Glück, dass in dieser Zeit kein anderer da war, um ihr schöne Augen zu machen. Sie hätte aus allen wählen können. Sie war so bezaubernd und auf wundersame Weise schön, ohne es darauf anzulegen, verstehen Sie?«
»Ja, ich glaube schon. Sagen Sie, wie haben Sie denn trotz des Vaters zueinander gefunden?«
»Es dauerte bis er starb und er war ein zäher Knochen. Zwischenzeitlich war ich zu einem ganz ordentlichen Hufschmied geworden und so bestellte sie mich immer öfter in den Stall. Erst verständlich, irgendwann aber nur noch wegen Kleinigkeiten. Während ich das Vieh versorgte, stand sie in der Tür, schaute mich an, aber sagte kein Wort. Das ging eine ganze Weile so.«
Manfred schmunzelt wieder auf seine ganz eigene Art, es folgt offensichtlich gleich eine kleine Pointe, denke ich mir in dem Moment, in dem sie tatsächlich
kommt: »Später erzählte sie mir, dass sie sich stets vornahm, mich zu fragen, ob ich zum Essen bleiben wollte, sich aber wieder und wieder nicht traute und dann fuchsteufelswild mit sich wurde, weil sie gar nicht wusste, wer das nun wieder alles essen sollte.«
»Oh nein, sie kochte jedes Mal, fragte dann nicht und saß anschließend allein am vorbereiteten Tisch?«
»So ungefähr, ja.«
»Unglaublich! Unglaublich schön und beharrlich. Ich freue mich sehr, dass Sie so einer wundersamen Liebe begegnet sind.«
»Nun, es war gewiss nicht immer leicht, aber auch sowas gehört wohl einfach dazu.«
»Und wie haben Sie die schwierigen Zeiten überstanden?«
»Hm«, mit zusammengepressten Lippen blickt er nach wie vor auf das Foto seiner Frau: »wie haben wir zwei das überstanden, Gerda?« Dann sieht er zu mir.
»Wir haben wohl verstanden, dass das Miteinander eine Brücke ist, die jeden Tag aufs Neue gebaut werden muss. Am besten von beiden Seiten.«
Wir halten einen Moment inne. Dann sage ich:
»Das klingt sehr schlau, darüber werde ich sicher eine Weile nachdenken.«
»Wissen Sie, meine Mutter sagte immer: Liebe vor Leuten hat nichts zu bedeuten. Und ich schätze sagen zu können, dass das wohl stimmt. Am Ende werden die Probleme des Lebens doch nie an langen Tischen gelöst, sondern hier, in der kleinen Küche. Hier muss man miteinander ehrlich sein. Und dann kann man Streit sparen.«
»Streit sparen?«
»Aber ja. So wie der Kühlschrank einem das Wegschmeißen und Krankwerden erspart, so kann man mit einer einfachen Frage auch viel, viel Streit sparen.«
»Ach, das ist ja interessant – mit welcher Frage?«
»Gerda, nun will er wissen, was wir uns gefragt haben, wenn wir hier saßen und ich erst meine und dann deine Plätzchen aß.« Manfred dreht das Foto in seinen Händen mehrfach hi n und her. Auf der Rückseite steht: Liebe, Liebe, Liebe! Handgeschrieben.
»Die Frage lautet: Willst du Mitgefühl oder Lösungsvorschläge?«
»Ja?«
»Jawohl. Das hält die Augenhöhe und ist bedarfsgerecht.«
»Bedarfsgerecht«, wiederhole ich und hänge noch an der Frage: »Sie meinen…«
Er unterbricht mich: »Ich meine, der eine neigt dazu, immer gleich alles besser zu wissen und der andere, zu tätscheln. Manchmal braucht man das eine, manchmal das andere. Es ist nur ratsam, das vorher kurz abzufragen, weil das eine zu geben, während das Gegenüber aber das andere braucht – das ist ein Dynamit!«
»Die Frage spart den Streit, ich verstehe. Setzt das nicht aber voraus, dass das Gegenüber die Frage auch beantworten kann, dass also überhaupt klar
ist, was gebraucht wird.«
»Vorsicht, hier lauert er schon, der Kardinalfehler!«
»Wie meinen Sie das? Mir fallen viele Situationen ein, in denen mir nicht ganz klar ist, was gebraucht wird.«
»Was aber noch lange keinen Grund für Bevormundung darstellt.«
»Nein, natürlich nicht.«
»So werden Menschen, denen es nicht gut geht aber oft behandelt. Ein bisschen so, als wäre ihnen die Fähigkeit verloren gegangen, sich um sich zu
kümmern. Niemand anderes kann wissen, was derjenige braucht, außer er selbst. Nicht einmal Eltern eines Neugeborenen wissen Bescheid, wenn sie ihr schreiendes Baby, ihr eigen Fleisch und Blut, auf dem Arm halten – sie raten einfach nur. Könnte es Hunger haben? Ist das Popöchen möglicherweise wund?«
»Das scheint mir einleuchtend.«
»Es kann also nur in Streit ausarten. Zudem folgt das nächste Problem direkt auf dem Fuß.«
»Welches?«
»Verantwortungslosigkeit. Wenn man ständig aushilft und an allen Ecken Verantwortung abnimmt, steht man jedem Lern- und Entwicklungsprozess
im Weg. Man gewöhnt sich an die Hilfe, man verlässt sich auf die Hilfe. Das können Sie in jede Richtung weiterdenken, es endet nie gut.«
Während ich über das Gesagte nachdenke, kramt Manfred in seiner Kiste.
»Hier, das ist unser Hochzeitsbild. Schauen Sie nur, ich kleines Glücksschwein!«
Auf dem Bild ist ein junges Brautpaar zu sehen; sie in einem eng anliegenden, schlichten weißen Kleid, er in einem schwarzen Frack.
»Wissen Sie was?«, da ist es wieder, sein Zwischenschmunzeln: »Sie trägt es noch.«
»Wie bitte?«
Er zieht seine Augenbrauen ganz weit hinauf und nickt stürmisch.
»Sie haben schon richtig gehört.«
Ich weiß nicht, was er meint. Oder doch?
»Auch ich werde bald meinen Anzug noch ein drittes Mal anziehen.«
»Ein drittes Mal?«
»Zur Hochzeit«, er zeigt mir seinen Daumen.
»Zur Goldenen Hochzeit«, sein Zeigefinger folgt dem Daumen.
»Und zur Beerdigung«, sein Mittelfinger gesellt sich hinzu: »Für immer ist für immer.«
Wir schweigen einen Moment. Er vor Stolz, ich vor Hochachtung. Wie wunderbar, wie beneidenswert. Manfred kratzt sich hinter seinem Ohr.
»Sie hatten mich angerufen und sagten, Sie hätten bald Feierabend. Sie meinten, Sie werden zeitnah sterben. Nun bin ich hier und erlebe Sie beinahe
in Vorfreude. Trügt mich dieser Eindruck?«, frage ich ihn.
»Ganz und gar nicht, Herr Wache. Ganz und gar nicht.«
»Sie freuen sich also tatsächlich?«
»So ist es. Wir haben hier alles erledigt. Unsere Kinder sind inzwischen in Rente, haben selbst Kindern ins Leben verholfen und nun Enkel. Es ist an der Zeit. Gerda wird alles vorbereitet haben, ich habe noch ein bisschen reinegemacht hier unten und nun ist es auch gut. Es geht uns beiden besser, wenn wir wieder beisammen sind.«
»Darf ich Sie fragen, wie Sie sich das vorstellen, Ihre Zusammenkunft?«
»Da habe ich noch nicht drüber nachgedacht.«
»Nein?«
»Nein. Wirklich nicht. Ich weiß ja auch nicht, was kommt. Das weiß ja keiner! Aber ich bin ganz sicher, dass wir am selben Ort sein werden. Ob das nun Himmel oder Hölle oder sonst wo ist, das ist mir nicht wichtig.«
»Was macht Sie so sicher?«
»Es kann doch gar nicht anders sein! Wir haben das ganze Leben von A bis Y zusammenverbracht. Wir haben alle Erfolge und alle Fehler gemeinsam begangen. Und dieses letzte Jahr, ohneeinander, da ist nichts weiter passiert. Ich war ja mehr im Krankenhaus als anderswo.«
»Wegen Ihres Herzens?«
»Wegen allem. Ich hatte einige Infarkte, ich weiß gar nicht recht wie viele, mehr als eine Hand voll, seit Gerda verstorben ist. Nun habe ich die Rettung abbestellt.«
»Sie haben die Rettung abbestellt?«
»Ja, mein Enkel hat das aus dem Internet ausgedruckt und ich habe das besprochen mit dem Herrn Doktor und der Frau Doktor und dann unterschrieben. Und wenn der Schalter nun wieder runterklappt, dann bleibt er unten. Und dann sind wir wieder zusammen und haben das
auch erledigt.«
»Sie sind ein ganz beachtlicher, wundersamer Mann.«
»Vor allem bin ich ein Mann, dem die Kekse seiner Frau fehlen. Auf die...«, und nun schmunzelt er tatsächlich noch einmal dieses mir längst liebgewordene stille Lachen: »...auf die freue ich mich am allermeisten!«